Wie kommen wir unserer menschlichen Essenz näher?
Egal, welches Thema Sie nehmen, Sie finden keine zwei Experten, die einer Meinung sind.
“Frauen sollten früher Kinder bekommen” aber auch “junge Frauen sollten sich erstmal verwirklichen und Karriere machen”;
“Gesunde Ernährung ist wichtig” aber auch “Man sollte das essen, worauf man Lust hat”.
Wem kann man noch Glauben schenken?
Darüber, wie man die Spreu vom Weizen trennt, und was so alles in unserer Gesellschaft schief gegangen ist, habe ich mich vor kurzem mit Prof. Dr. Jörg Spitz, dem Leiter der Akademie für menschliche Medizin und evolutionäre Gesundheit unterhalten.
DW: Wie können wir besser verstehen, was gut für uns ist und was nicht? Was unserem Körper hilft, gesund zu bleiben und was nur Marketingtricks sind, die Produkte besser verkaufen?
Prof.JS: Bei allem, was wir tun, sollten wir versuchen, ein menschengerechtes, artgerechtes Leben zu führen.
Wenn wir dem Körper das geben, was er braucht, dann wird der auch topfit. Hier ein Beispiel, wenn wir ein Auto haben, bei dem nur die Luft in den Reifen fehlt, wird es trotz vielem Schnickschnack nicht fahren können.
Bei uns Menschen ist es ähnlich. Der Unterschied ist nur, dem Auto muss alles gegeben werden, und uns hat die Natur mit allem ausgestattet, was wir brauchen, weil wir aus der Umwelt heraus entstanden sind.
Im Laufe der Evolution hat die Natur Systeme bis zur Perfektion entwickelt. Und wenn der Fisch jetzt sagt, ich will am Land spazieren gehen, hat er Pech gehabt. Mann kann sich bis zu einem gewissen Grad adaptieren, klar, aber optimal sind seine Systeme nur in einer bestimmten Umgebung.
DW: Viele Menschen denken, wir sind schlauer als die Natur bzw. wir können die Natur umgehen, wenn sie uns nicht passt. Legen wir zu viel Wert auf Bequemlichkeit?
Prof.JS: Ja, weil wir vor lauter Wald die Bäume nicht mehr sehen. Nehmen wir wieder ein Beispiel.
Täglich laufen wir herum und denken nicht, dass es eine einfache physikalische Größe, die Schwerkraft, gibt. Hat sie für uns eine Bedeutung, verspüren wir ein Bedürfnis nach Schwerkraft? Nein. Überwinden wir die Schwerkraft beim Fliegen ins All, bekommen wir Muskelschwund und Osteoporose.
Das andere Beispiel wäre die Sonne. Die allermeisten von uns verbringen ihr Leben in geschlossenen Räumen. Aber haben wir keine Sonne, fehlt es uns an Vitamin D. Außerdem fehlt uns nach einer Weile ein fester Tag-Nacht Rhythmus, wodurch wir die Chance verpassen, uns nachts ausreichend zu regenerieren. Krankenschwestern, die im Schichtdienst arbeiten, insbesondere der Nachtschicht, haben ein erhöhtes Risiko, am Mammakarzinom zu erkranken.
DW: Woran liegt es, dass wir oft nicht erkennen, wenn unser Körper an seine Grenzen stößt und wir ihn immer weiter überlasten?
Prof.JS: Es liegt daran, dass der Körper eine enorme Kompensationsfähigkeit hat. Bei den artifiziellen Systemen ist das anders: schütten Sie einmal eine Flasche Cola ins Auto und es ist aus. Unseren Körper sabotieren wir meistens Jahrelang, bevor er sich meldet und krank wird.
Wir sagen bei den Tieren im Zoo, sie sollten artgerecht gehalten werden. Aber warum behandeln wir uns selbst nicht artgerecht? Das ist das große Problem unserer Zeit.
Warum essen sogar wir, die Ernährungsbewussten, oft sehr ungesund?
Warum greife sogar ich zu den Keksen, die auf jedem Tisch bei meinem Vortrag liegen? Warum gehen meine öko-bewussten Freunde mit ihren Kindern zu McDonalds?
Weil es da ist.
Weil es bequem ist.
Weil wir täglich hunderte von kleinen Entscheidungen treffen müssen und manchmal zu müde und hungrig sind, um noch eine klare Grenze zu ziehen und zu verteidigen. Wenn das System falsch läuft, wie kann sich der Einzelne richtig verhalten? Unsere Umwelt haben wir massiv verändert und dass muss zurückgedreht werden.
Wir haben uns in der Steinzeit gesund ernährt, weil es nichts anderes gab. Jetzt gibt es ein Überangebot, vor allem von dem Essen, an das wir genetisch und biologisch nicht angepasst sind. Menschen haben keine angeborenen Gene für gesunde Ernährung, sie sind gesund, wenn die Umwelt sie nicht krank macht.
Unsere Umwelt haben wir mit Beginn des Ackerbaus und der Viehzucht massiv verändert. Schon am Anfang des Ackerbaus gab es Verluste von Artenvielfalt, weil man nur bestimmte Tiere und Pflanzen gezüchtet hat.
Als die Menschen anfingen, sesshaft zu leben, viele an einem Ort und quasi „in der eigenen Kacke“, ging es mit den Infektionen und der Kindersterblichkeit los. Schlimm wurde es dann im Mittelalter, als wir intensiv angefangen haben, den Boden zu zerstören, toxische Substanzen aktiv hinein zu setzen bzw. schon vorhandene daraus zu befreien.
Die Natur hat Jahrmillionen gebraucht, um die anorganischen toxischen Substanzen zu binden und im Boden an die organischen anzubinden. Vom Boden aus betrachtet, ist das ein Rückfall in die Anarchie der Erde.
DW: Was wäre die Lösung? Wie kann der Mensch aus der Falle kommen und sich in einen besseren Einklang mit der Natur bringen?
Prof.JS: Wir sollten da ansetzen, wo die Natur aufgehört hat, bevor wir sie vor 10.000 Jahren und dem Beginn des Ackerbaus außer Kraft gesetzt haben. Seitdem entwickelt sich der Mensch nicht mehr und seit dem Beginn der industriellen Revolution vor knapp 200 Jahren wird er immer kränker. Es ist mittlerweile ganz normal geworden, von Zivilisationskrankheiten zu reden und an ihren Folgen zu sterben.
DW: Aber wo hat die Natur aufgehört, welche Fähigkeiten sollten wir weiterentwickeln? Mentale, sprachliche? Wir wissen, dass im Durchschnitt alle zwei Wochen eine Sprache auf der Welt ausstirbt. Die sechstausend Weltsprachen werden auf nur noch wenige Sprachen reduziert. Viele denken, dass wir unsere eigene kulturelle und ethnische Vielfalt noch viel schneller vernichten als den Rest der Artenvielfalt.
Prof.JS: Das stimmt. Aber so wichtig das Kulturelle und das Sprachliche auch ist, so sind dies alles Fähigkeiten, die erst später in der Evolution aufkamen.
Aber was war zuerst da?
Was hat uns zu Menschen gemacht?
Unsere große “Birne”, die vorderen Hirnareale, die für Mitgefühl und das soziale Verhalten zuständig sind. Es ist die Empathie, die uns von Pflanzen und Tieren unterscheidet. Und da haben wir aufgehört, uns weiterzuentwickeln.
Danke für das interessante Gespräch!
Bis nächste Woche,
Darja