Was Spermiogramme NICHT sind: Interview mit Dr. Alvaro Vives
Während des Workshops in der Dexeus Universitätsklinik in Spanien, hatte ich die Möglichkeit mit dem Chef der andrologischen Abteilung, Dr. Alvaro Vives, zu sprechen.
Dexeus ist eine viel besuchte Klinik – es ist ein Ort, an dem die ersten andrologischen Dienste in Europa in den 1960er Jahren angeboten wurden und wo heutzutage die hochmodernsten Maßnahmen und Eingriffe durchgeführt werden. Doch das war zum Glück nicht der Fall.
Die Art und Weise, wie Dr. Alvaro sprach, erweckten in mir das Interesse, mehr zu erfahren, als ich ursprünglich geplant hatte (mein Blog beschäftigt sich bekannterweise mit dem Kinderwunsch der Frauen), so dass sich unser Treffen schnell in eine freundliche und manchmal sehr intensive Konversation verwandelte, die insgesamt viel länger währte als beabsichtigt.
Männer dürfen nicht darauf reduziert werden, nur Spermienlieferanten zu sein
DW: Dr. Vives, wie genau kann man sich Ihre tägliche Arbeit vorstellen? Was ist Andrologie und was sind die wichtigsten Dinge, die Frauen darüber wissen sollten?
Dr. Vives: Andrologie (die Lehre vom Mann) geht als Disziplin langsam verloren… Die ersten andrologischen Dienste in der Welt wurden hier, genau an diesem Ort in den 1960ern, angeboten. Seitdem hat sich vieles verändert, nicht nur in Spanien. Heutzutage finden die meisten allgemeinen andrologischen Untersuchungen beim Endokrinologen statt, wenn der Mann ein Fruchtbarkeitsproblem hat (oder sich das Paar bereits einer Kinderwunsch-Behandlung unterzieht).
Ich mache mir etwas Sorgen, dass wir den Mann immer häufiger als eine Summe seiner Spermien ansehen, was natürlich falsch ist. Denn dafür sind die Spermiogramme nicht da! Die Ursachen der Unfruchtbarkeit sind gleichermaßen auf Mann und Frau verteilt. Tatsache ist, dass ungefähr 40% der Unfruchtbarkeit eines Paares vom Mann verursacht wird, die anderen 40% von der Frau und die letzten 20% haben eine unbekannte Ursache, was bedeutet, dass die Gründe dafür komplex sind.
Und das ist etwas, das wir erst noch besser verstehen müssen. Wenn es um das gesamte Reproduktionspotenzial eines Paares geht, gibt es noch sehr viel, was wir erst verstehen müssen und es darf kein einzelner Laborwert überinterpretiert werden.
Die Fruchtbarkeit beim Mann unterliegt häufigen Schwankungen
DW: Aber meinen Sie nicht auch, dass im Falle des unerfüllten Kinderwunsches die Frau eine größere Last auf ihren Schultern trägt? Bei der Frau müssen viele Faktoren zusammenkommen (Eizellen, Befruchtung, Einnistung, Entwicklung, Geburt…) damit es zur Schwangerschaft überhaupt kommt…und wenn nur einer davon schief geht, wird es kein Baby geben. Andererseits können die Fruchtbarkeitsprobleme des Mannes oft umgangen werden. Wie sehen Sie das?
Dr. Vives: Dieses Szenarium ist natürlich wahr, wenn wir über Kinderwunsch-Behandlungen reden. Aber die wirkliche Frage ist, warum versuchen wir nicht den Männern zu helfen, ihnen mehr Zeit zu geben, so dass sie die Babys natürlich zeugen können, in ihrem eigenen Bett?
Das ist meine Vorgehensweise. Wenn es irgend möglich ist, versuche ich zuerst die Zeugungsfähigkeit bei meinem Patienten zu verbessern, ohne das Paar sofort zur IVF-Abteilung zu überweisen. Es gibt viele Möglichkeiten, die Zeugungsfähigkeit des Mannes zu beeinflussen. Es erfordert aber natürlich eine Zeitinvestition seitens des Paares.
Vorsichtig interpretieren – was Spermiogramme NICHT sind
Oft übersehen die Paare, dass die Fruchtbarkeit beim Menschen ein Kontinuum ist, kein einzelner Datenpunkt. Nicht nur bei Frauen verändert sich über die Zeit das fruchtbare Potenzial, sondern auch bei Männern. Viele Paare sind nach der Auswertung eines Spermiogrammes ein wenig geschockt. Und dabei sind die Werte eines Spermiogramms nur Laborparameter, keine Diagnosen. Und es ist wichtig zu wissen, dass es völlig normal ist, dass die Werte im Laufe des Lebens ziemlich schwanken können.
Bei manchen Männern werden die Schwankungen solch ein Ausmaß haben, dass das Paar sich vielleicht zu einem Zeitpunkt aufgrund der Unfruchtbarkeit des Mannes einer Kinderwunsch-Behandlung unterziehen muss. Mit anderen Worten, die Fruchtbarkeit ist sowohl bei Frauen als auch bei Männern in ständiger Bewegung. Zusätzlich kommen noch einige Faktoren dazu, die wir immer noch nicht verstehen: es passiert häufig, dass Männer mit einem “schlechten” Spermiogramm Ihre Partnerin schwängern und umgekehrt.
Oder es geschieht, das der gleiche Mann eine Frau schwängern kann, aber nicht eine andere. Die wahre Fruchtbarkeit eines Mannes wird nicht so sehr in seinem Spermiogramm reflektiert, sondern in seiner Fähigkeit, eine Frau zu schwängern und ein gesundes Baby zu zeugen.
Die Fruchtbarkeit ist sowohl bei Frauen als auch bei Männern in ständiger Bewegung. Es passiert häufig, dass Männer mit einem “schlechten” Spermiogramm Ihre Partnerin schwängern und umgekehrt.Oder es geschieht, das der gleiche Mann eine Frau schwängern kann, aber nicht eine andere. Die wahre Fruchtbarkeit eines Mannes wird nicht so sehr in seinem Spermiogramm reflektiert, sondern in seiner Fähigkeit, eine Frau zu schwängern und ein gesundes Baby zu zeugen.
Kann die Fruchtbarkeit beim Mann verbessert werden?
DW: Gibt es etwas, das Männer in ihrem Lebensstil ändern können, um ihre Fruchtbarkeit zu verbessern? Eine bestimmte Ernährungsweise, Vitamine, Bewegung? Was würden Sie einem Paar empfehlen, das versucht, auf natürlichem Wege ein Baby zu bekommen?
Dr. Vives: Männer sollten nicht übermäßig trainieren. Zu viel Sport verursacht unnötige Hitze in den Hoden und man hat festgestellt, dass dies die Werte der DNA-Fragmentierung erhöht (von der man annimmt, dass es die Embryoqualität beeinträchtigt). Also – Marathon laufen und lange Fahrradtouren mögen im Trend sein, aber in dieser besonderen Lebensphase sollte der Mann vorerst an andere Alternativen denken, um sich fit zu halten.
Außerdem sollten die Männer natürlich nicht rauchen. Ihr Gewicht und ein gesunder BMI sind genauso wichtig wie bei den Frauen. Was Vitamine betrifft, Männer sollten darauf achten, nur die Vitaminpräparate zu sich zu nehmen, die in Doppelblindversuchen als wirksam festgestellt wurden. Es ist ja so, dass Vitamine nicht so genau kontrolliert werden wie die Medikamente und die Märkte versuchen, ihren Vorteil daraus zu ziehen.
Infektionen sind nicht immer leicht zu erkennen
Dr. Vives: Ein weiteres, lückenhaft dokumentiertes Thema, das die Fruchtbarkeit beeinflusst, sind sexuell übertragene Infektionen. Viele solcher Infektionen sind nicht leicht festzustellen. Wenn zum Beispiel eine Infektion durch Viren oder Mykoplasmen verursacht wurde, was oft der Fall ist, benötigt man eine PCR oder einen anderen kostspieligen, sensiblen Test, um den Verursacher herauszufinden. Wenn also ein Mann (oder eine Frau) keine besonderen Schwierigkeiten bzw. Symptome hat, wird unser Gesundheitssystem einfach nicht nach irgendwelchen zu Grunde liegenden chronischen Infektionen suchen.
Auf diese Weise können Infektionen für Jahre unentdeckt bleiben, und dabei oft die Fruchtbarkeit der Paare verringern. Das wird dann durch die Tatsache noch komplizierter, dass nicht jeder Mensch bzw. jedes Paar gleichermaßen empfindlich auf die unterschwellige Infektion reagiert.
Bei einigen Menschen ist das Fruchtbarkeitspotential einfach robuster als bei anderen. Aber mit Sicherheit sind sexuell übertragbare Krankheiten eine Aufgabenstellung, mit der sich die Reproduktionsmedizin in Zukunft noch näher beschäftigen wird.
Im Allgemeinen sollten Paare nicht zu lange warten, Kinder zu bekommen. Und wenn Probleme auftreten (z.B. das Paar wird trotz regelmäßigem Geschlechtsverkehr innerhalb eines Jahres nicht schwanger), sollte es nicht zögern, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Es gibt viele Dinge und Maßnahmen, die man versuchen kann, bevor man ein Paar zur IVF schickt.”
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Spermiogramme gestern und heute: Sind junge Männer weniger fruchtbar als ihre Großväter?
DW: In den letzten Jahren hat man viel darüber lesen können, wie sich die Spermienqualität allgemein verschlechtert hat. Junge Männer sind offensichtlich viel weniger fruchtbar als die Generation ihrer Großeltern. Können Sie das bestätigen?
Dr. Vives: Nun, es scheint eine gewisse Verringerung der Spermienqualität zu geben. Die Wissenschaft ist sich jedoch noch nicht im Klaren darüber und wir werden noch weiter abwarten müssen, bis ein eindeutigeres Ergebnis vorliegt.
Ein Problem liegt darin begründet, dass ein Vergleich der Generationen schwierig ist, einfach aus dem Grund, dass hochentwickelte Messungen und Technologien erst seit den letzten Jahren zur Verfügung stehen. Es gab keine Samenanalysen in der Zeit unserer Großeltern. Wenn in dieser Generation jemand unfruchtbar war, hat er meistens nie den Grund dafür herausgefunden.
Auch hat sich in den letzten Jahrzehnten die Lebensweise sowohl der Frauen als auch der Männer in der westlichen Gesellschaft enorm verändert. Nehmen Sie z.B. mich. Als Junge wurde ich als groß betrachtet. Heutzutage sind die Jungen in Spanien im Durchschnitt 10-15 cm größer als in meiner Generation. Wir essen mehr Proteine, die Nahrung, die wir essen, ist nicht nur voller Hormone, sondern auch noch anderer Verbindungen, an die die Frauen und Männer physiologisch und evolutionär nicht angepasst sind. Ganz zu schweigen von Plastik, Handys und all den anderen Dingen, die wir erst anfangen zu verstehen.
DW: Wie schätzen Sie die Rolle von Stress bei einem Paar ein, das ein Kind bekommen möchte?
Stress spielt eine bedeutende Rolle und kann kaum überbewertet werden. Der Stress, schwanger werden zu wollen, kann sogar eine Beziehung zerstören. In ähnlicher Weise kann aber auch eine Beziehung durch Nachwuchs und Elternschaft beendet werden (er lacht). Allzu leicht beginnt man sich nur auf einen Aspekt als Paar zu konzentrieren: Sexualität, romantische Liebe oder einfach Eltern sein, und verliert dabei alles andere aus den Augen.
Den Geschlechtsverkehr zeitlich festzulegen kann eine gewaltige Herausforderung für jede Beziehung sein.
Z.B. würden die meisten Männer, die wissen, sie können mit einer attraktiven Frau jeden Tag Sex haben, dies begrüßen und wären fähig, dem nachzugehen. Wenn jedoch diese attraktive Frau von einem Mann erwartet, an einem bestimmten Tag oder sogar zu einer bestimmten Stunde Sex zu haben, würden die meisten Männer ziemlich schnell nicht mehr Lust darauf haben.
In ähnlicher Weise geschieht es manchmal, dass ein Mann während der Kinderwunsch-Behandlung einfach nicht in der Lage ist, eine Samenprobe abzuliefern (in so einem Raum wie auf dem Foto links).
Sex ist von der Evolution her mit Freude gekoppelt und nicht mit Erwartung oder Leistung. Und das wird sich nicht so schnell ändern.
DW: Was wäre eine Lösung? Wie können wir beginnen, offener über die Dinge zu reden, die uns bedrücken? Wie können junge Menschen lernen, zwischen den Meinungen, die nützlich und gut sind, und jenen, die einfach nur laut und weit verbreitet sind, zu unterscheiden? Und das Wichtigste, wann sollten Ihrer Meinung nach Frauen beginnen, Babys zu bekommen?
Dr. Vives: Unsere Mütter hatten ihr erstes Kind im Durchschnitt mit 25 bekommen. Dann steigerte sich das Alter auf 27 und bewegt sich in Richtung 30 oder sogar noch älter. Es ist offensichtlich, dass unsere Gesellschaft ein Problem hat. Ich persönlich habe nicht die Macht, den Frauen zu sagen: “Ihr solltet früher anfangen, Babys zu bekommen.” Ich bin Arzt, was bedeutet, ich bin da, um den Menschen zu helfen und nicht, um ihre Lebensweise in irgendeiner Art zu beurteilen.
Ich sehe in meiner Praxis täglich Menschen, die sich mit allen Arten von sexuellen Praktiken beschäftigen, einschließlich illegaler oder unmoralischer, oder auf eine andere Weise, die gesellschaftlich nicht akzeptiert wird. Und dennoch ist es mein Beruf, ihnen zu helfen.
DW: Wenn es die Ärzte nicht tun, wer sollte dann der jüngeren Generation die notwendige Bildung vermitteln?
Dr. Vives: In der Tat würden die meisten Ärzte mit mir übereinstimmen, dass es besser ist, zeitiger Nachwuchs zu bekommen, und das betrifft sowohl Frauen als auch Männer. Wenn man jung ist, hat man mehr Energie, mehr Möglichkeiten, einschließlich der Chance, die richtige Hilfe zu bekommen, wenn unvorhergesehene Schwierigkeiten auftreten sollten.
Ja, vielleicht sollten wir Ärzte offener und klarer in der Öffentlichkeit reden (er denkt nach). Vielleicht sollten die Menschen, die um diese Thematik wissen, eine aktivere Rolle übernehmen und die jüngeren Generationen lehren und ihnen helfen, auf die Stimme der Vernunft zu hören, bevor sie durch die Stimmen, die aus den Mainstream Medien kommen, verwirrt werden bzw. sich von jenen beeinflussen lassen, die sich mehr ums Geschäft kümmern als um die Gesundheit.
Aber die meisten von uns Ärzten sind einfach zu sehr beschäftigt und denken, “wer bin ich denn, den anderen zu sagen, was sie tun sollen?”