Wo genau steht Deutschland in Sachen Kinderwunschforschung?
Vom 23. bis zum 26.Juni 2019 hat in Wien die ESHRE Konferenz stattgefunden. ESHRE (European Society of Human Reproduction and Embryology) ist die größte Konferenz für Kinderwunschmedizin in Europa und die zweitgrößte in der Welt. Für den Presseausweis und Zugang zu allen Ecken möchte ich mich ganz herzlich bei Christine Bauquis von der Organisation bedanken.
Und schon am Anfang eine gute Nachricht!
Die ESHRE-Konferenz begann dieses Jahr mit einer sogenannten Keynote Lecture der bekannten Biologin Prof. Claire Robertson von der University of Adelaide in Australien. Keynote Lectures sind fast immer kleine “politische Statements”, werden immer sorgfältig ausgesucht und zeigen, in welche Richtung sich ein Gebiet weiterentwickelt.
In dem Vortrag “Pre- and early pregnancy diet is associated with fertility and health in pregnancy” ging es genau darum, was wir auf Paleo Mama seit Jahren besprechen: Lifestyle-Interventionen zur Verbesserung der Fruchtbarkeit! Und ganz besonders – die Ernährungsweise!
Diese wissenschaftliche Publikation aus dem Labor von Prof. Robertson war im Laufe 2018 die meist heruntergeladene Publikation auf diesem Gebiet. Prof. Robertson und ihr Team haben sich die Essgewohnheiten von 5.598 gesunden, jungen Frauen im Laufe von sieben Jahre angeschaut und konnten feststellen, dass diejenigen, die mehr frisches Obst und Gemüse gegessen haben sowie wenige bis gar keine Fertiggerichte/Fastfoods, eine bessere Chance hatten, schwanger zu werden und auch gesunde Kinder zur Welt zu bringen. Mehr zum Nachlesen gibt es hier:
Grieger JA, Grzeskowiak LE, Bianco-Miotto T, Jankovic-Karasoulos T, Moran LJ, Wilson RL, Leemaqz SY, Poston L, McCowan L, Kenny LC, Myers J, Walker JJ, Norman RJ, Dekker GA, Roberts CT. Pre-pregnancy fast food and fruit intake is associated with time to pregnancy. Hum Reprod. 2018 Jun 1;33(6):1063-1070.
Gleich danach hat Prof. Benjamin Davies von der University of Oxford über Gen-Editing gesprochen; darüber, wie CRISPR-Technologie erst am Anfang ihrer Entwicklung steht. Er erwähnte die vielen ethischen Bedenken und auch, dass wir erst begonnen haben, die Gen-Schere zu verstehen. Es war so, als hätte Prof. Davis in seinem fast 45-minütigen langen Vortrag eins sagen wollen: langsam Leute, lassen Sie uns zwei Schritte zurück gehen, bevor wir weitermachen.
(Also ganz anders als manche Menschen von der Nationalen Akademie der Wissenschaften, die in Deutschland an dem neuen Embryo-Gesetz basteln. Lesen Sie nachher unbedingt hier: Leihmutterschaft bald im neuen Fortpflanzungsmedizingesetz?! )
Damit Sie bei meinem Konferenzbericht nicht einschlafen, gibt es jetzt ein wenig Klatsch und Tratsch. Was gab es auf ESHRE aus Deutschland?
Wo steht Deutschland in Sachen Kinderwunschforschung?
Na ja, dazu gibt es eine gute und eine schlechte Nachricht (und ich würde lieber mit der schlechten anfangen).
Bei der größten europäischen Konferenz für menschliche Reproduktion war Deutschland (schon wieder) unterrepräsentiert. Konkret meine ich damit folgende Zahlen:
Von insgesamt 238 Vorträgen und Präsentationen waren 16 aus Deutschland.
Von 181 Industrieausstellern waren 18 aus der Bundesrepublik (mit eingerechnet sind auch die globalen Giganten wie Merck, Eppendorf, Miltenyi Biotech und GE Healthcare).
Wahrscheinlich das Wichtigste: von den sogenannten “Postern” – das sind taufrische kurze Berichte, die die neuesten Forschungsdaten zeigen, waren von insgesamt 749 knapp 20 aus Deutschland.
Welche Länder führen auf dem Gebiet der Reproduktionsmedizinischen Forschung?
Spanien hat sich jedenfalls als eine Weltmacht in allen Sachen Kinderwunschforschung etabliert. Meiner Einschätzung nach sind die Durchbrüche, die Spanien bei der Präimplantationsdiagnostik gemacht hat vergleichbar mit dem, was Kolumbus vor 500 Jahren entdeckte.
Sehr fleißig in der Forschung (und der Anwendung) sind auch die USA, Dänemark, Tschechien, Holland, Schweden, Frankreich, aber auch China, Indien, die Vereinigten Emirate usw. Und noch viele andere Länder auf der Welt sind bemüht und wachsam, wenn es darum geht, die Reproduktion ihrer Bevölkerung zu sichern.
Embryonale Stammzellforschung wird woanders gemacht
Woran liegt es, dass das zweitgrößte Land in Europa nicht auf dem Gebiet der Reproduktionsforschung stärker repräsentiert ist? Vor allem liegen die unerfreulichen Zahlen daran, dass Deutschland vor beinah 20 Jahren die embryonale Stammzellforschung verboten hat. Damit wurde einer sich schnell entwickelnden und stark wachsenden Branche die einzige Möglichkeit entzogen, frei zu reden und ihre Fragen zu stellen.
Jetzt werden Sie sich wahrscheinlich sehr wundern, aber diese Situation sehe ich (noch) nicht so pessimistisch! Warum? Weil,
1. Zu allen nicht-embryonalen Themen wie z.B. Andrologie, Endometriose, Unterstützung der Lutealphase usw. in Deutschland hervorragende Forschung gemacht wird. Hier sind nur einige wenige der Institute und Kinderwunschzentren, bei deren Vorträgen die Konferenzsäle voll waren und /oder die Menschen noch draußen vor den Bildschirmen diese interessiert verfolgten (aus Platzgründen kann ich nur einige wenige erwähnen):
Uni-Heidelberg und Uni-Frauenklinik Heidelberg, Kinderwunschzentrum Lübeck, Frauenklinik Ulm, Universität Bielefeld, Universitätsklinikum Münster, Klinik für Urologie und Andrologie Gießen, Universitätsklinikum Erlangen usw. (Suchen Sie nach “Berlin”? Habe ich auch gesucht…)
Zusammengefasst, Deutschland mag einige der Entwicklungen in den letzten 20 Jahren der globalen embryonalen Forschung verpasst haben, aber Sie können mir jetzt glauben, so wie Sie mir seit fünf Jahren auf Paleo-Mama glauben: viele dieser Entwicklungen waren nicht unbedingt positiv.
Deshalb bin ich jetzt überzeugt, dass Deutschland mit einem guten neuen Stammzell- bzw. Embryo-Gesetz nicht nur alle anderen EU-Länder in kürzester Zeit einholen und auch überholen würde, sondern – und das halte ich persönlich für das Wichtigste – eine dringend benötigte Ordnung und Struktur in diese (in manchen Aspekten jedenfalls) völlig wildgewordene Branche bringen würde.
Seit einigen Jahren beobachte ich die Entwicklungen auf diesem Gebiet sehr genau und eins kann ich sagen, die Rolle Deutschlands wird in der EU-Reproduktionslandschaft heiß vermisst.
Und jetzt noch kurz zu den Highlights, über die Sie in den nächsten Wochen und Monaten hier auf Paleo-Mama mehr erfahren werden. Der japanische Professor Shu Hashimoto (Osaka Medical School) hat einen wunderbaren Vortrag über L-Carnitin gehalten; darüber, wie L-Carnitin in vitro (das heißt in der Zellkultur, in der die Eizellen im Labor nachgereift werden) dabei hilft, die Entwicklungskapazitäten der Embryonen, welche von älteren Frauen stammen, zu verbessern.
John Ioannidis vom Stanford University und Christina Bergh vom Uni-Göteborg sind bei einer gemeinsamen Session sehr detailliert auf die Frage eingegangen, ob IVF, ICSI, und diverse andere Manipulationen zu Unterschieden in der Gesundheit und Intelligenz von Kindern führen, die auf solche Weise entstanden sind. Es wurden Dutzende von Studien genau unter die Lupe genommen und ihre Ergebnisse sorgfältig analysiert.
Sine Berntsen, Viveca Söderström-Anttila, Ulla-Britt Wennerholm, Hannele Laivuori, Anne Loft, Nan B Oldereid, Liv Bente Romundstad, Christina Bergh, Anja Pinborg. The health of children conceived by ART: ‘the chicken or the egg?’. Human Reproduction Update, Volume 25, Issue 2, March-April 2019, Pages 137–158.
Während der gesamten Konferenz habe ich mich mit vielen Wissenschaftlern, Industrieausstellern und Ärzten unterhalten – bald werden Sie mehr darüber hier auf Paleo-Mama lesen können. Schauen Sie bald wieder vorbei!